Ein Platz voller Geschichte(n)
– oder vom vergessenden Erinnern, Teil 3, Ort der Erinnerungen
Brigitte Entner
Verhinderte Gedenkfeier 1946
Anlässlich der vierten Wiederkehr der zwangsweisen Aussiedlung wollten die Opfer- und Interessensverbände der Kärntner Slowen*innen am 15. April 1946 eine Gedenkveranstaltung mit einer Messe im Dom durchführen.(27) Die Kärntner Behörden zögerten zunächst mit bürokratischen Finten die Genehmigung der Veranstaltung hinaus. Die Initiator*innen werteten dieses Vorgehen als ein taktisches Manöver. Sie vermuteten, dass es nicht gewünscht war, dass sowohl das Ausmaß der gegen die Kärntner-slowenische Bevölkerung gerichteten NS-Verfolgungsmaßnahmen als auch deren aktiver und umfassender Beitrag an der Niederschlagung des NS-Regimes dokumentiert wird. Insgesamt hatten mindestens 530 Kärntner Slowen*innen im Zuge der NS-Verfolgungsmaßnahmen ihr Leben lassen müssen. Zu dieser Zahl kommen noch jene 150 bis 200 Kärntner Slowen*innen, die im Rahmen der NS-Euthanasiemaßnahmen ermordet wurden.(28)
Erst als die politische Vertretung der Kärntner-slowenischen Bevölkerung, die Osvobodilna fronta za slovensko Koroško (Befreiungsfront für slowenisch Kärnten, OF), die Verantwortung für die Veranstaltung übernommen hatte, konnte die Veranstaltung nicht mehr aus formalen Gründen verhindert werden. Nun versuchten die Behörden mit schikanösen Maßnahmen die Zahl der Teilnehmenden möglichst klein zu halten. Zum Teil wurden ihnen am Weg die Papiere abgenommen, oder sie wurden, wie Pfarrer Janko Mikula, der als Festredner vorgesehen war, kurzerhand verhaftet. Dennoch zählten die Sicherheitsbehörden mehr als 1.000 Personen, die zur Veranstaltung gekommen waren.(29)
Viel schlimmer als all die Schikanen aber empfanden die Teilnehmenden das kurzfristige Verbot des Gedenkgottesdienst. Sie ließen sich nicht vertreiben und beteten vor Ort gemeinsam einen Rosenkranz für ihre zahlreichen Todesopfer. Im Anschluss zogen sie in einem Schweigemarsch in Richtung Bahnhof, um auf die vielen Transporte hinzuweisen, die hier ihren Ausgang genommen hatten. Die Abschlusskundgebung sollte in St. Ruprecht vor dem heutigen Volkskino stattfinden. Mit Transparenten und Tafeln machten sie ihre Opfer sichtbar, mit der Parole „Smrt fašizmu“ verwiesen sie auf ihren erfolgreichen antifaschistischen Kampf. Auf ihrem Weg stießen die Teilnehmer*innen auf weitere Hindernisse wie Wasserwerfer und prügelnde Polizisten.(30) Zwei Personen, darunter ein ehemals Ausgesiedelter, wurden krankenhausreif geschlagen. 79 Personen wurden festgenommen.(31) Der Leiter des britischen Informationsdienstes, Gerald Sharp, der die Veranstaltung beobachtet hatte, war schockiert von dem Vorgehen der österreichischen Polizei. In seinem Bericht hielt er fest, dass weder die von ihm aufgezeichneten Reden noch das Verhalten der Teilnehmer*innen dieses rigorose Vorgehen gerechtfertigt hätten.(32) Viele Teilnehmende, vor allem ehemals Internierte, erfuhren anlässlich dieser Veranstaltung eine neuerliche Traumatisierung.
Gedenkmarsch in Klagenfurt, 15. April 1946 Quelle: ASZI
Ort der Erinnerungen
All diese Ereignisse sind mittlerweile in Vergessenheit geraten. Dabei war die Jesuitenkaserne bereits in der Zwischenkriegszeit als Ort der Erinnerungen auserkoren worden. Am 10. Oktober 1922 war der „Khevenhüller-Bund“ als Kameradschaftsbund gegründet worden.(33) Er sah sich als Traditionsträger des „Siebener Regiments“, das bei den Kämpfen in den Karnischen wie Julischen Alpen, vor allem aber an der Isonzofront schwerste Verluste erlitten hatte.(34) Es waren Heimkehrer dieses aufgelösten Regiments, die während des Grenzfindungskonfliktes 1918/19 im Volkswehrbataillon gekämpft (35) bzw. die Einheiten kommandiert hatten, wie die Offiziere Hans Steinacher und Eduard Barger. Ludwig Hülgerth wurde gar zum Landesbefehlshaber bestellt. Teile des Volkswehrbataillons gingen schließlich in dem 1920 formierten Kärntner Alpenjäger-Regiment Nr. 11 auf.(36) Anlässlich des 10-jährigen Bestandes des „Khevenhüller-Bundes“ wurde in den Räumlichkeiten der Jesuitenkaserne ein „Regimentsmuseum des Kärntner Alpenjäger-Regimentes Nr. 11“ eröffnet. Diese „Ehrenhalle der Kärntner Truppen“ wollte, wie es in einem Spendenaufruf um Erinnerungsstücke für die Sammlung hieß, „die heroischen Taten des Weltkrieges und der Kärntner Freiheitskämpfe der Nachwelt vor Augen“ führen.(37) Die Eröffnung des Museums am 23. Oktober 1932 wurde von einem großen Festakt begleitet. Oberst Barger, Kommandant an der Isonzofront sowie während des Grenzfindungskonfliktes, schloss die Veranstaltung folgendermaßen:
„Wir alten leisten mit unseren jungen Kameraden heute erneut das Gelöbnis: Treue und Opferwillen für unser deutsches Volk, für unsere geliebte Kärntner Heimat! Unseren Landsleuten gilt der Wunsch: mögen alle die Vaterland und Volk als heilige Begriffe hochhalten, jene geschlossene Front bilden, die uns unsere Siege gebracht hat. Möge diese Front auch siegen im Kampfe um die Ehre und Freiheit eines ungeteilten, glücklichen Kärnten!“(38)
Oberst Eduard Barger sprach, wie auch seine Vorredner Maier-Kaibitsch als stellvertretender Obmann der Bundesleitung des Bundes und Landeshauptmann Ferdinand Kernmaier, von Siegen. Doch der Erste Weltkrieg war verloren, wie auch der Grenzfindungskonflikt von der Volkswehr nicht siegreich beendet werden konnte. Mit der Betonung des deutschen Volks, oder gar des „echten deutschen Soldatengeists“, wie es Kernmaier formuliert hatte, wurden die Leistungen wie auch das Leid der slowenischsprachigen Kärntner Soldaten während des Ersten Weltkrieges ausgeblendet, vergessen gemacht, obwohl sie bei den Kämpfen gegen die italienische Armee einen entscheidenden Faktor an der vielbeschworenen „geschlossenen Front“ ausgemacht hatten. Das Armeeoberkommando hatte an der Südwestfront gezielt auf den Patriotismus der slowenischen Soldaten gesetzt.(39) Diese mussten in der Folge auch einen großen Blutzoll bei den Kämpfen an der Isonzofront leisten. Und Kärnten war nach dem Staatsvertrag von Saint-Germain-en-Laye 1919 nicht „ungeteilt“ geblieben, es hatte das Kanaltal/Val Canale/Kanalska dolina/Val Cjanâl (mit Weissenfels/Fusine/Fužine und Raibl/Rabelj) an Italien und das Mießtal/Mežiška dolina und Seeland/Jezersko an den SHS-Staat abtreten müssen.
Die Reden anlässlich der Museumseröffnung zeigen, wie rasch sich nach dem Plebiszit von 1920 ein neuer Kärnten Mythos etablieren konnte, der den politischen Eliten im Lande für die Schaffung einer neuen Ordnung, eines neuen Wir-Gefühls unabdingbar schien. Die Phrase vom „ungeteilten Kärnten“ stand für ein nach außen als „deutsch“ präsentiertes Kärnten, das dem Slowenischen keinen Platz zugestanden hatte. Eine Politik der konstanten Ausgrenzung war mittlerweile für ein Fünftel der Kärntner Bevölkerung bittere Realität geworden.(40)
Nach der Eröffnung des Museums bemühte sich der „Khevenhüller-Bund“ das Gebäude selbst und seine Geschichte zu historisieren. „Gedächtnistafeln“ sollten an den Außenmauern vom Haus und den darin untergebrachten Truppen erzählen.(41) Doch nicht nur das Gebäude war Teil der Kärntner und speziell der Klagenfurter Erinnerungskultur geworden. Die in der Jesuitenkaserne stationierte Militärkapelle war seit den frühen 1920er Jahren wesentlicher Teil der zentralen Gedenkveranstaltungen, wie den Feiern zum 10. Oktober oder zum 12. November, dem damaligen Staatsfeiertag, geworden. Der vorabendliche Zapfenstreich machte immer auch vor der Kaserne Station.(42)
Museale Pläne
Bis zur Eröffnung des Regimentsmuseums hatte sich eine nicht unerhebliche Sammlung von Militaria im Landesmuseum befunden. Trotz der Abgabe dieses Bestandes beklagte das Museum in der Folge einen eklatanten Platzmangel für seine Sammlungen und die umfangreiche Bibliothek. Unmittelbar nach dem sogenannten Anschluss gab es erste Planungsgespräche mit der Bauabteilung des Landes. Doch die Hoffnung auf einen Neubau musste wenig später wieder aufgegeben werden, obwohl sich der Platzmangel verschärfte. Das Museum hatte die vom NS-Regime konfiszierten Sammlungen des Stiftes St. Paul sowie Teile der in Wien arisierten und beschlagnahmten Kunstschätze übernommen.(43) Doch nicht nur das Landesmuseum, sondern auch die Landesgalerie, die Studienbibliothek sowie das Reichsgauarchiv klagten über Raumnot. Parallel dazu gab es in Kärnten Pläne zu einer Neugestaltung der wissenschaftlichen und musealen Landschaft. Ein Erlass des Reichsstatthalters vom Dezember 1940 gibt uns einen Einblick in diese Überlegungen. Der Erlass zeigt auch, wie geplant war mit der „Raumnot“ der genannten Einrichtungen umzugehen. Von einem Neubau eines Bibliotheks-, Archiv- und Museumsgebäudes war man kriegsbedingt abgegangen. Anstelle dessen hatte man, für die Zeit nach dem Krieg, die Jesuitenkaserne ins Auge gefasst. Hier sollten alle genannten Einrichtungen untergebracht und zusammengeführt werden. Damit würden die Einrichtungen aber auch ihre Eigenständigkeit aufgeben müssen, denn die Museen (mit Ausnahme der naturkundlichen Sammlung) und die Landesbildergalerie sollten unter eine einheitliche Leitung gestellt und deren Sammlungen in das Eigentum des Gaues übergeben werden.(44) Die Jesuitenkaserne sollte also, sobald diese nicht mehr für militärische Zwecke gebraucht würde, zu dem zentralen Sammlungs- und Ausstellungsort in Klagenfurt und somit wieder zu einem Ort der Bildung umfunktioniert werden, so der Plan der Landesverwaltung.
Das bald erhoffte Kriegsende und damit die Sanierung und Adaptierung der Jesuitenkaserne als neuem Ausstellungs-, Sammlungs- und Forschungskomplex rückte jedoch in weite Ferne. Nichtsdestotrotz fand am Vorabend zu den 10.-Oktober-Feierlichkeiten 1942 die feierliche Übertragung der Sammlungen in das Eigentum des Landes bzw. in die Gauselbstverwaltung statt.(45) Tags darauf erfolgte die Konstituierung des „Instituts für Kärntner Landesforschung der Universität Graz in Klagenfurt“.(46) Das Datum wurde nicht zufällig gewählt. Es zeigt welche Erwartungen die politische Landesführung in die wissenschaftliche Forschung und die Vermittlung setzte: Es ging um nicht weniger als die wissenschaftliche Legitimierung der jüngst in Angriff genommenen brutalen „Neuordnung“ des Alpen-Adria-Raums inklusive einer konsequent verfolgten Germanisierungspolitik (47) sowie der in Kärnten schon länger betriebenen Entnationalisierungspolitik.
Verwischte Spuren
1942 waren in der Jesuitenkaserne Angehörige des Gebirgsjäger Ersatz Regiments 139 untergebracht. Teile dieses Regiments waren im April 1941 am Überfall auf Jugoslawien beteiligt gewesen. Sie blieben nach Abschluss der Kampfhandlungen als Teil der Besatzungsmannschaft in Oberkrain/Gorenjska. Zu ihren zentralen Aufgaben gehörten „Sicherungsmaßnahmen“, also die Partisanenbekämpfung in Oberkrain und Kärnten. Nach der Waffenstillstandserklärung der Regierung Badoglio im September 1943 gründete das NS-Regime im von ihm besetzten nordöstlichen Teil Italiens die Operationszone Adriatisches Küstenland und ernannte den Kärntner Reichsstatthalter Friedrich Rainer zum Obersten Kommissar. Zur Bekämpfung des Widerstands in Istrien wurde das zu diesem Zweck formierte Reserve Gebirgsjäger Regiment 139 entsandt.(48)
Gegen Kriegsende beschädigten Bombentreffer die Jesuitenkaserne schwer geschädigt und zerstörten alle Hoffnungen auf ein neues Zentralmuseum. Unmittelbar nach der Befreiung am 8. Mai 1945 bezogen jugoslawische (bis zum 20. Mai) und britische Einheiten hier Quartier und nutzten Teile des Gebäudes zur Internierung ihrer Gefangenen.(49) Aber auch die heimkehrenden zwangsweise ausgesiedelten Kärntner-slowenischen Familien wurden im Juli 1945 hier interniert. Bewohnbare Teile des Gebäudes wurden in weiterer Folge als Wohnraum an Bombengeschädigte vergeben. 1960 begann der großräumige Abriss des Komplexes. 1964 wurden die letzten Spuren verwischt, darunter auch die mittlerweile von den Mietern als Kellerabteile genutzten Arrestzellen.
Wiederfinden
Die meisten mit diesem Ort verbundenen Geschichten sind heute ebenso vergessen wie das imposante Gebäude, das über 350 Jahre diesen Platz dominierte und weit in die Stadt und in das Land ausstrahlte. Manche dieser Geschichten wurden von anderen (historischen) Ereignissen überlagert und verdeckt, andere wurden aus (historischer) Unwissenheit ausgelöscht, einige aber wurden ganz bewusst vergessen gemacht. Mit dem bewussten Erinnern und/oder Vergessen wurde und wird Geschichte gemacht und gewünschte Machtverhältnisse abgesichert.(50) Eine kritische Auseinandersetzung mit der vermittelten Geschichte und ihren Mythen ist für eine offene Gesellschaft unabdingbar.