(Nicht) in Stein gemeißelt
Über (politische) Instrumentalisierung von Erinnerung
Brigitte Entner
Auf der kleinen Grünfläche zwischen Klagenfurter Dom und Karfreitstraße, dem Jesuitenpark, steht seit 2002 ein relativ unscheinbarer Stein mit einer Inschrift. Es handelt sich dabei nicht nur um ein Erinnerungszeichen, das an eine Gruppe von Menschen erinnert, die nach dem Kriegsende zum überwiegenden Teil außergerichtlichen Liquidationen zum Opfer gefallen sind, sondern auch um eine Manifestation deutschnationaler Geschichtspolitik, die die Opfer in Geiselhaft genommen hat.
Der Stein war nicht das erste Erinnerungszeichen seiner Art, hatte er doch eine schlicht gehaltene Gedenktafel aus dem Jahr 1990 abgelöst. Diese Tafel war auf Initiative diverser sich als Heimatverbände verstehender Organisationen (u.a. Kärntner Abwehrkämpferbund, Kärntner Landsmannschaft, Kameradschaftsbund, Ulrichsberggemeinschaft) nach heftigen Diskussionen um das zweisprachige Schulwesen in Kärnten und auch in direktem Bezug zum 70-Jahr-Jubiläum des Plebiszits von 1920 im November 1990 realisiert worden. Die Gedenktafel war, anders als von den Initiatoren erhofft, sehr schlicht ausgefallen. Durch ihre Positionierung war die Tafel, wie der Obmann des Abwehrkämpferbundes in einem Interview wenige Jahre später beklagte, zu einem „Hundebrunzwinkel“ verkommen. [1] Bald schon bemühten sich die Initiatoren um ein wirkmächtigeres Mahnmal. Es sollte jedoch bis 2002 dauern, bis sich eine Änderung abzeichnete und sich alle im Klagenfurter Stadtsenat vertretenen Parteien für eine Neugestaltung aussprachen. Der Kulturstadtrat übernahm auch einen Teil der Kosten.[2]
Kärntner Diskurs(e)
2002 war zwar kein anlassbezogenes Gedenkjahr für eine Neugestaltung, aber es gab in Kärnten heftig geführte Diskussionen um staatsvertraglich zugesicherte Minderheitenrechte. Am 13. Dezember 2001 hatte der Verfassungsgerichtshof (VfGH) die im Volksgruppengesetz von 1976 formulierte Klausel für die „Ortstafelregelung“ aufgehoben.[3] Deutschnationale Kreise interpretierten den Spruch als „Schandurteil“. Landeshauptmann Haider verhöhnte den VfGH, diffamierte jene Kärntner Slowenen, die für die Umsetzung ihrer Rechte kämpften und drohte ihnen mit dramatischen Einschränkungen der Fördermaßnahmen.[4] Anlässlich des 60. Jahrestages der zwangsweisen Aussiedlung von 227 Kärntner-slowenischen Familien strahlte der ORF die Dokumentation „Die Kärntner Partisanen“ von Gerhard Anton Roth aus.[5] Der Film erzählt nüchtern und unaufgeregt die Geschichte von Diskriminierung und Verfolgung und endet mit den damals aktuellen und außerhalb Kärntens kaum nachvollziehbaren Ortstafeldiskussionen. Zudem beleuchtet er die (geschichts-)politischen Interventionen der Deutschkärntner Traditionsverbände und deren Vorläuferorganisationen kritisch und thematisiert jene Geschichtsbilder, die für die Stabilität des Kärntner Mythos unabdingbar schienen. Die Reaktionen auf die Dokumentation fielen in Kärnten äußerst heftig aus. Es wurde von „ungeheuerlicher Geschichtsfälschung“ gesprochen und eine „Wiedergutmachung“ gefordert.[6] Der Kärntner Landtag verurteilte mehrheitlich den Beitrag. In der Folge brachte der Landeshauptmann eine Beschwerde des Landes wegen „grober Verletzung der Objektivität“ beim Bundeskommunikations-Senat ein. Die Beschwerde wurde nach ausführlicher Prüfung als „unbegründet“ zugrückgewiesen. Der Titel der TV-Dokumentation „Die Kärntner Partisanen“ musste geändert werden, da die erzählte Geschichte weit über jene des bewaffneten Widerstandskampfes hinausging. Die Kärntner Printmedien interpretierten die Entscheidung anders und titelten ihre Berichte dahingehend, dass der ORF verurteilt worden sei. Dieser sah sich daraufhin genötigt, eine Richtigstellung zu erwirken.[7]
Feierliche Enthüllung
Die Botschaft, die eine Erneuerung des Erinnerungszeichens vermitteln würde, schien perfekt in diese aggressive Stimmung zu passen, zumal Roth die mit dem Mahnmal zu erinnernden Ereignisse in seiner Dokumentation nicht erwähnt hatte.[8] Am 12. Juli 2002 erfolgte unter großem öffentlichen Interesse die Enthüllung des Gedenksteins. Diözesanbischof Alois Schwarz, der auch den anschließenden Gedenkgottesdienst im Dom abhielt, nahm die Einweihung in Anwesenheit des Landeshauptmannes, Vertretern der Parteien, der Militärmusik sowie Abordnungen der „Plattform Kärnten“ vor. Die Plattform hatte sich im Zuge der Diskussionen rund um das VfGH-Erkenntnis gebildet. Ihr gehörten unter anderem Abwehrkämpferbund, Kärntner Heimatdienst (KHD), Kameradschaftsbund, Ulrichsberggemeinschaft, Kärntner Landsmannschaft sowie der Verband der volksdeutschen Landsmannschaften an. Heinz Stritzl, langjähriger Chefredakteur der Kleinen Zeitung in Kärnten und nunmehriger Sprecher der Plattform, war Hauptredner.[9]
Anlässlich der Feierlichkeiten verkündete der Landeshauptmann, dass sich das Landesarchiv mit neuen, bislang unbekannten Dokumenten zur unmittelbaren Nachkriegszeit beschäftigen werde und beauftragte es zugleich mit der Erarbeitung einer Wanderausstellung für die Kärntner Schulen zum Thema, denn es gelte, „die richtigen Schlussfolgerungen“ zu ziehen, so Jörg Haider.[10] Welche Schlussfolgerungen die „richtigen“ sein sollten, zeigt sich an einer weiteren Diskussion, die österreichweit geführt wurde. Der damalige Volksanwalt der FPÖ, Ewald Stadler, hatte die NS-Diktatur mit der (sowjetischen) Besatzung gleichgesetzt.[11] Unterstützung fand Stadler beim Kärntner Landeshauptmann, der forderte, hinsichtlich der Besatzungszeit keine Geschichtsfälschung mehr zu betreiben.[12] Nicht nur in Österreich finden wir diese Versuche einer revisionistischen Neubewertung. Gerade im jungen Slowenien erlangten diese revisionistischen Geschichtsbetrachtungen große mediale Aufmerksamkeit, Anerkennung und – ganz besonders – finanzielle Unterstützung.[13] In Kärnten verfolgten deutschnationale Kreise dieses Umschwenken von Teilen der slowenischen Historiographie wohlwollend und bezeichneten es als vorbildhaft.[14]
Wer wird erinnert?
Der Gedenkstein und die damit verbundene Erzählung wurde von Kritiker*innen als versuchte Täter-Opfer Umkehr und Relativierung von NS-Verbrechen gewertet. Der KHD wiederum sah, als einer der Initiatoren des Gedenksteins, in der Kritik eine Verhöhnung und Diffamierung der Opfer und drohte, die sogenannte Verschleppten- mit der Ortstafelfrage verknüpfend, seine Zustimmung hinsichtlich einer Neuregelung zu verweigern.[15] In dieser sehr aufgeheizten Stimmung wurde die Erneuerung des Gedenkzeichens realisiert. Doch an wen sollte der Stein erinnern? Welches Schicksal ist den zu Erinnernden widerfahren? Die Inschrift des Gedenksteins gibt uns folgende Information:
“Zum Gedenken an die während und nach dem Zweiten Weltkrieg von Partisanen verschleppten und ermordeten Kinder, Frauen und Männer. Wir wollen nicht vergessen, damit Gleiches nie wieder geschieht.”
Im Widerspruch zu dieser Inschrift sprachen die Initiatoren von einem „Denkmal für Nachkriegsopfer des Partisanenterrors“.[16] Sie fokussierten auf jene Männer und Frauen, die im Mai 1945 von Einheiten der Jugoslawischen Armee verhaftet und nach Slowenien verbracht wurden. Von den ca. 350 zwischen dem 8. und 20. Mai in Kärnten verhafteten Männern und Frauen blieben 96 vermisst.[17] Bereits die Gedenktafel von 1990 war explizit dieser Gruppe gewidmet. So berichtete der Heimatdienst in seinem Organ „Der Kärntner“ vom „Denkmal zur Erinnerung an die nach Kriegsende von Tito-Partisanen nach Jugoslawien verschleppten und ermordeten Kärntner Zivilpersonen“.[18]
Statement on Atrocities – Erklärung zu Gräueltaten
Unmittelbar nach ihrem Einmarsch am 8. Mai 1945 hatten Einheiten der Britischen wie auch der Jugoslawischen Armee systematisch Verhaftungen vorgenommen, dies taten auch die anderen Alliierten nach ihrem Einmarsch in Österreich. Sie bezogen sich dabei auf einen Anhang der Moskauer Deklaration von 1943 (Statement on Atrocities)[19] und gingen zum Teil nach dem „Handbook of Military Government in Austria“[20] vor. Demnach waren Kriegsverbrecher, aber auch Funktionäre und Mitglieder des NS-Systems, also der NSDAP und ihrer Verbände und Gliederungen, sowie leitende Beamte der staatlichen Bürokratie, des Justiz- und Repressionsapparates (Gestapo und SD) unabhängig von persönlichen Verstrickungen sofort zu verhaften. Im Ermessen der Offiziere lag es, darüber hinaus auch, wie es im Handbuch hieß, „fanatische Nazisympathisanten“ und „Faschisten“ zu verhaften. Kriegsverbrecher sollten in jene Länder verbracht werden, in welchen sie ihre Verbrechen begangen hatten.[21]
Haftwege
Die Jugoslawische Armee, die von den Alliierten während des Krieges als Kombattant anerkannt worden war, musste sich auf Druck der Briten mit 20. Mai 1945 aus Kärnten zurückziehen. Den Großteil ihrer Verhaftungen hatten die Einheiten des Sicherheitsdienstes OZNA (Oddelek za zaščito naroda) bereits mit 12. Mai abgeschlossen. Bis zum 20. Mai hatten sie mehr als die Hälfte der Verhafteten wieder freigelassen. Weitere Entlassungen sollten noch folgen. 96 Männer und Frauen kehrten jedoch nicht mehr zurück. Über die Vorgänge jener ersten Tage wissen wir zum Teil aus Berichten der britischen Militärregierung und aus einem äußerst umfangreichen, 1952 abgeschlossenen Bericht der Sicherheitsdirektion für Kärnten (SDfK), der sich vor allem auf Aussagen der Heimkehrenden stützte. Der vollständige Bericht samt umfassendem Begleitmaterial wurde jahrzehntelang unter Verschluss gehalten. Dies, sowie die Tatsache, dass Jugoslawien keinerlei Auskünfte über den Verbleib der Vermissten erteilt hatte, leistete zahlreichen Gerüchten Vorschub.[22] Die tradierten Erzählungen rankten sich vor allem um jene aus dem Raum Bleiburg/Pliberk Verhafteten, die Odyssee während der ersten Hafttage sowie die noch im Mai 1945 erfolgte Ermordung eines Teils der Männer und Frauen nahe Leše/Liescha sowie die Internierung im Lager Sterntal (Strnišče). Doch gab es auch andere Verfolgungswege. Die im Raum Klagenfurt festgenommenen und vorübergehend in der Jesuitenkaserne festgehaltenen Personen wurden direkt in das während der NS-Zeit besonders gefürchtete Gefangenenhaus bei Begunje/Vigaun überstellt. Von 32 weiteren Personen wissen wir, dass sie in das Gefangenhaus von Maribor/Marburg gebracht wurden. Was mit ihnen weiter passierte, wissen wir nicht. Einige wenige erlagen im Krankenhaus in Ptuj/Pettau bzw. im Lager Sterntal ihren Krankheiten. Und es gibt Hinweise, dass in Slowenien gegen einige ein Strafverfahren eingeleitet wurde.[23] Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass der überwiegende Großteil der Vermissten außergerichtlichen Tötungen zum Opfer gefallen ist. Während die Verhaftungen im Rahmen der Legalität erfolgten (siehe Moskauer Deklaration), haben die außergerichtlichen Liquidationen diesen Rahmen überschritten.
Haftgründe
Doch warum wurden diese Männer und Frauen nun tatsächlich verhaftet? In den Narrativen der Initiatoren für die Erinnerungszeichen, aber auch bei ihnen nacheifernden Politikern und in den entsprechenden Medien finden wir als zentrales Motiv für die Verhaftungen, dass es sich bei ihnen um „heimattreue Kärntnerinnen und Kärntner“ gehandelt und dass sich unter ihnen „kein einziger aktiver Nationalsozialist“ befunden hätte, ihr einziges „Verbrechen“ sei ihr „Eintreten für Österreich zur Zeit der Kärntner Volksabstimmung 1920“ gewesen.[24] Ende 1947 tauchte dieses Narrativ erstmals auf. Kurz zuvor war Alois Maier-Kaibitsch in Klagenfurt als Kriegsverbrecher zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Er war vor Ort hauptverantwortlich für die zwangsweisen Aussiedlung von 1942. Erst nach dem Urteilspruch wurde das Schicksal der vermissten Männer und Frauen öffentlich thematisiert und zugleich politisch instrumentalisiert.[25] Der ehemalige Kärntner Landeshauptmann und nunmehrige ÖVP-Abgeordnete Vinzenz Schumy sprach im Dezember 1947 im Nationalrat das Schicksal der Vermissten an und scheute sich nicht, mit falschen Zahlen und Fakten zu operieren.[26] Spätestens ab diesem Zeitpunkt wurde das Schicksal der Vermissten von Deutschnationalen und ihren Medien mit den für den Staatsvertrag auszuhandelnden Minderheitenrechten verknüpft. In diesem Sinne schien es notwendig, den Diskurs so zu steuern, dass eine Diskussion über die Rechtmäßigkeit der Verhaftungen gar nicht erst entstehen konnte. Die formell am 1. März 1945 gebildete und von den Alliierten anerkannte Jugoslawische Armee wurde im deutschnationalen Diskurs nie als solche bezeichnet. Man sprach ausschließlich von „(Tito-)Partisanen“ (auch die Kärntner Behörden sprachen von „Titotruppen“). Auf diese Weise konnte einerseits eine ebenso direkte wie diffamierende Linie zu den Kärntner Slowenen und Sloweninnen gezogen, andererseits die Verhaftungen selbst als illegal erklärt werden. In ihrem Diskurs vermieden sie daher auch konsequent den Terminus „Verhaftung“ und sprachen ausschließlich von „Verschleppungen“. Mit dem Beharren auf die „Heimattreue“ der Verhafteten, deren einziges Verbrechen die Beteiligung am „Abwehrkampf“ gewesen sei, sollten andererseits etwaige schuldhafte Verstrickungen mit dem NS-Regime kategorisch ausgeschlossen und die betroffenen Männer und Frauen ohne Unterschied exkulpiert werden.
Nationalsozialisten?
Die Behauptung, es hätte sich unter den Vermissten „kein aktiver Nationalsozialist“ befunden, hält einer kritischen Überprüfung nicht stand. So finden wir unter den Verhafteten beispielsweise die NS-Bürgermeister von Klagenfurt,[27] Ferlach, Eberndorf, Waisenberg und Eisenkappel, mehrere Ortsgruppenleiter und Zellenleiter sowie „Alte Kämpfer“, aber auch „einfache“ Parteimitglieder. Der Klagenfurter NS-Bürgermeister Friedrich von Franz beispielsweise war 1933 auf Grund seines Engagements für die illegale NSDAP seines Amtes als Bezirkshauptmann von St. Veit an der Glan enthoben worden und wurde unmittelbar nach dem „Anschluss“ zum Oberbürgermeister von Klagenfurt ernannt, was er bis zum Kriegsende blieb. Mit ihm wurden seine Frau Ottilie und sein Sohn Ernst, Leutnant der Gebirgsjäger, verhaftet.[28] Das Beispiel von Ernst von Franz widerlegt auch die bereits 1947 formulierte Behauptung, dass sich unter den „Verschleppten“ keine Kriegsteilnehmer befunden hätten.[29] Während von Ottilie von Franz keine politische Agitation bekannt ist, finden wir auch unter den verhafteten Frauen die gesamte Bandbreite von „Illegalen“ bis zu Funktionärinnen (NS-Frauenschafts- oder BDM-Führerinnen). Verhaftet wurden Gestapoangehörige wie Gestapokonfidenten, Verwaltungs- und Zollbedienstete sowie Personen, die sich aktiv am erzwungenen Germanisierungsprozess im gemischtsprachigen Teil Kärntens wie auch im besetzten Slowenien beteiligt oder zwangsenteigneten wie arisierten Besitz übernommen hatten.[30] 1971 fasste die Sicherheitsdirektion Kärnten (SDfK) in einem Bericht für den Landesamtsdirektor die Frage der Parteizugehörigkeit folgendermaßen zusammen:
„Schließlich ist in einer beträchtlichen Anzahl von Verschleppungsfällen als Grund hiefür auch die Zugehörigkeit zur ehemaligen NSDAP mit und ohne Funktionen anzunehmen, weil anderweitige Ursachen nicht bekannt geworden sind.“[31]
Zu einem ähnlichen Schluss war die britische Militärregierung in Klagenfurt bereits 1945 gekommen. Sie sprachen von „staunch National Socialists“ – überzeugten Nationalsozialisten. Sie erwähnen aber auch andere Gründe, die wir zum Teil ebenfalls im Bericht der SDfK aus 1971 finden: Denunziation bzw. persönliche Feindschaft sowie „Irrtümer“.[32]
Entgegen der Behauptung von deutschnationaler Seite, dass die Männer und Frauen ausschließlich ob ihres „heimattreuen“ Engagements 1918 bis 1920 verfolgt worden seien, finden wir unter den Vermissten nur wenige, von denen tatsächlich ein aktives Engagement bekannt ist. Für was aber steht der Begriff „heimattreu“? Im deutschnationalen Kärntner Diskurs ist dieser höchst problematische und ideologisch besetzte Begriff (wie auch jener des „Deutschkärntners“) positiv konnotiert. In Realiter aber dient(e) er der Verschleierung slowenenfeindlicher Haltung und Agitation.
Familientragödien
In der Inschrift des Steins wird nicht nur auf Frauen und Männer verwiesen, sondern an erster Stelle auf Kinder. Das Wort Kinder emotionalisiert die Betrachter, verweist es doch auf ein moralisch besonders verwerfliches Vorgehen. Wirft man jedoch einen genaueren Blick auf die ab 8. Mai 1945 in Kärnten verhafteten und in der Folge vermissten Personen, dann findet man keine einzige unter ihnen, die auf Grund ihres Alters tatsächlich als Kind bezeichnet werden könnte. Das Schicksal der Familie Gassner hat sich im kollektiven Klagenfurter Gedächtnis besonders eingeprägt: Vater, Mutter, Tochter und Sohn kehrten nach ihrer Verhaftung nicht mehr wieder. Doch die „Kinder“ waren bereits 30 Jahre alt. Die jüngste vermisst gebliebene Frau war Jahrgang 1925. Der jüngste Mann war 19 Jahre alt. Als Gebirgsjäger im Bezirk Völkermarkt war er Teil jener Einheiten, die zur Partisanenbekämpfung eingesetzt und von der slowenischsprachigen Bevölkerung gefürchtet wurden. Einige weitere Jugendliche zwischen 15 und 19 Jahren finden wir unter den Verhafteten, die unmittelbar nach ihrer Festnahme wieder freigelassen wurden.
Schon 1947 wurde in der Kärntner Öffentlichkeit ausschließlich die private Seite der Opfer thematisiert. Die Betonung der „Familientragödien“, die sich tatsächlich für jede der betroffenen Familien ereignet haben, ganz besonders wenn minderjährige Kinder allein zurückgeblieben sind, entpolitisiert die Betroffenen. Durch diesen sehr privaten Blickwinkel sollten sie ihrer politischen Verantwortung enthoben werden. Fragen nach den persönlichen Verstrickungen mit dem NS-Gewaltregime bleiben ausgespart. Die Väter, Mütter und Ehepartner, aber auch „Kinder“ waren als Individuen Teil des gesellschaftspolitischen Lebens im südöstlichen Kärnten. Dessen Alltag war von einer Politik der zwangsweisen Germanisierung geprägt, von Denunziation, Spitzelwesen und Verrat, aber auch von Widerstand und Solidarität mit der verfolgten Minderheit sowie Unterstützung der Widerständigen. In diesem Mikrokosmos mussten sich die Menschen entscheiden, auf welcher Seite sie stehen und dafür Verantwortung übernehmen. Im Sommer 1944 wurde das Gebiet zum „Bandenkampfgebiet“ erklärt, was den Alltag der dort Lebenden noch mehr verschärfte. In diesem Mikrokosmos finden wir Motive für die Verhaftungen, die über die reine Parteimitgliedschaft hinausgehen: unmenschlicher Umgang mit Zwangsarbeiter*innen, persönliche Bereicherung im okkupierten Oberkrain/Gorenjska, Beteiligung an der Verfolgung slowenischsprachiger Mitbürger*innen, Denunziation.
Zivilbeamte
Im Kärntner Diskurs wird eine weitere Gruppe von Vermissten kaum erwähnt bzw. erinnert, obwohl auch sie Teil der Untersuchungen der Sicherheitsdirektion für Kärnten war, und es stellt sich die Frage, wieso. Diese Männer und Frauen wurden auf jugoslawischem Boden, vorwiegend im damaligen Landkreis Radmannsdorf/Radovljica verhaftet. 32 Personen blieben vermisst, nicht alle stammten aus Kärnten. Sie waren jedoch alle, bis auf die Ehefrau des Amtsarztes, Teil des NS-Repressionsapparates im besetzten Oberkrain. Wir finden unter ihnen einige Angehörige der Wachmannschaft des gefürchteten NS-Lagers Vigaun in Begunje, wo sich auch das Gestapo-Hauptquartier befunden hatte, den Chef des Kreisgerichts, Kreisamtsleiter oder einen NSV-Lagerleiter, zahlreiche Mitarbeiter*innen des Verwaltungsapparates, Funktionsträger und andere. Im Bericht der SDfK werden sie als „Zivilbeamte“ bezeichnet.[33] Wenn von ihnen im Kärntner Diskurs doch die Rede war, dann hieß es lapidar und ohne auf ihre Tätigkeiten hinzuweisen, sie seien nach der Kapitulation ermordet worden, oder um das Vorgehen subtil zu skandalisieren, sie seien am 8. Mai 1945, also am Tag der Kapitulation, aus einem Sanitätszug, der ja unter besonderem Schutz stehen sollte, geholt und ermordet worden.[34] Vom Bericht der Sicherheitsdirektion für Kärnten aus 1971 erfahren wir mehr. Die Vermissten dürften, bis auf zwei Frauen, die in Celje/Cili verhaftet wurden, nach ihrer Verhaftung in das Gefängnis von Begunje eingeliefert worden sein. Bei den meisten finden sich Hinweise, dass sie in der Folge in das Gerichtsgefängnis von Ljubljana überstellt wurden, dann verlieren sich jedoch ihre Spuren. Der ebenfalls verhaftete Amtsarzt dürfte mit seiner Frau von Begunje mit Entlassungspapieren in das Lager Sterntal verbracht worden sein. In diesem Lager wurden ab Kriegsende Volksdeutsche interniert, die aus Slowenien abgeschoben werden sollten. Auf Grund der Überfüllung breiteten sich Seuchen aus und führten zu zahlreichen Todesfällen. Doch wurden hier auch Menschen getötet. Wie sie und auch die aus Kärnten in dieses Lager Überstellten tatsächlich zu Tode kamen, ist nicht bekannt. Zu einer der beiden in Celje festgenommen Frauen gibt es Hinweise, dass sie 1947 zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde.[35]
Was bleibt?
Unmittelbar nach der Verurteilung von Maier-Kaibitsch im Spätherbst 1947 begannen deutschnationale Kräfte damit, das Schicksal der sogenannten Verschleppten für das tagespolitische Geschäft zu instrumentalisieren. Der ehemalige Landeshauptmann und nunmehrige Nationalratsabgeordnete Vinzenz Schumy und Staatssekretär Ferdinand Graf, beide von der ÖVP, nahmen das Thema sofort auch auf Bundesebene auf, um es hinsichtlich auszuhandelnder Minderheitenrechte für einen künftigen Staatsvertrag in die Waagschale werfen zu können. Spätestens ab 1950 übernahm auch der VdU [36] das Thema offensiv. Bis in die jüngste Vergangenheit wurde die Frage von Minderheitenrechten im Kärntner politischen Diskurs mit dem Schicksal der Vermissten verbunden. Ebenso wurde sofort auf die „Verschleppten“ verwiesen, wenn das Schicksal der vom NS-Regime verfolgten Kärntner Slowen*innen erinnert werden sollte.[37]
Mit dem Verweis auf das Schicksal der vermissten Männer und Frauen gelang es, die seit dem Grenzfindungskonflikt geschürte Deutschkärntner „Urangst“ am Köcheln zu halten. Diese „Urangst“ geht von einer konstanten Bedrohung aus dem Süden aus. Das Narrativ speiste sich aus den Gebietsforderungen Jugoslawiens nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg. Auch zweisprachige Ortstafeln wurden als versuchte Landnahme interpretiert und daher heftig bekämpft. Wer sich für zweisprachige Ortstafeln und Aufschriften aussprach, galt selbst zu Beginn der Nullerjahre noch als Landesverräter – zu einer Zeit also, als es „das Jugoslawien“ an der Südgrenze gar nicht mehr gab. Das Beharren darauf, dass die sogenannten Verschleppten ausschließlich auf Grund ihrer „Heimattreue“ und ihres Engagements für Kärnten in den Jahren 1918 bis 1920 verhaftet worden seien, ermöglichte zweierlei: Einerseits konnten mit dem Verweis auf die Zeit des Grenzfindungskonfliktes mutmaßliche Verstrickungen der Vermissten mit dem NS-Apparat und den Kriegsverbrechen pauschal ausgeblendet werden und andererseits die in der Moskauer Deklaration eingeforderte Verfolgung von Kriegsverbrechern und Angehörigen des NS-Regimes in Kärnten ausschließlich als „Rache“ am Plebiszit von 1920 gedeutet und so kriminalisiert werden. Dies gelang umso besser, weil ähnliche Vorgänge (Verhaftungen, Überstellungen und auch außergerichtliche Liquidierungen) in der südlichen Steiermark im Kärntner Diskurs nicht erwähnt wurden.[38] In diesem Sinne ist auch die Ausblendung jener Männer und Frauen zu verstehen, die offiziell als „Zivilbeamte“ bezeichnet wurden und deren Verstrickungen mit dem NS-Regime auf Grund ihrer Tätigkeit im besetzten Gebiet zu offensichtlich waren. An einer tatsächlichen Aufarbeitung der Geschehnisse, darunter fallen auch die zum Teil erfolgten außergerichtlichen Liquidierungen, bestand, dem Anschein nach, kein wirkliches Interesse. Ganz offen und manipulativ wurde mit falschen Bildern, Zahlen und Tatsachen operiert. Es ging darum, mit Hilfe des Schicksals der Vermissten, einen die Kärntner Bevölkerung spaltenden Mythos fortzuschreiben. Der Gedenkstein am Domplatz kann als Manifestation dieses Mythos gelesen werden.