Peter Pirker
Rede Domplatz „Svobodni! Befreit! Ein Fest für den Widerstand | Praznujmo upor“, Klagenfurt/Celovec, 1. Juli 2022
Sehr geehrte Damen und Herren, spoštovane gospe in gospodje!
Gestern vor 80 Jahren starben im Wiener Landesgericht neun Widerstandskämpfer aus Kärnten und der Steiermark unter dem Fallbeil der NS-Justiz. Ich vergesse ihre Namen immer wieder und zu meiner und ihrer Erinnerung nenne ich sie: Maximilian Zitter, Andreas Waste, Ludwig Höfernig, Josef Kuchler, Karl Zimmermann, Peter Schlömmer, Josef Straubinger, Michael Essmann, Johann König, Richard Götzinger. Sie hatten als Eisenbahner der Reichsbahndirektion Villach Züge beschädigt, um den Angriffskrieg Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion zu sabotieren. Sie gehörten zu jenen militanten Widerstandsgruppen von Sozialdemokrat:innen und Kommunist:innen, die zwischen 1939 und 1941 in Aktion getreten waren und den in diesem Zeitraum intensivsten Widerstand innerhalb des Deutschen Reiches geleistet hatten. Die Antifaschist:innen dieser Gruppen waren in Kärnten/Koroška, in der Steiermark, in Slowenien und in Friaul-Julisch Venetien geboren worden – in einem Gebiet, das im Verlauf der gesamten NS-Herrschaft ein geografisches Zentrum des zivilen und militanten Widerstands gegen Nationalsozialismus und Faschismus bleiben sollte. Sie reihten sich ein in die transnationale antinazistische und antifaschistische Allianz, sie reihten sich ein in die nationalen Befreiungskämpfe gegen den deutschen und italienischen Imperialismus, gegen die völkisch-rassistische Neuordnung Europas.
Nach der Welle der Angriffskriege löste die radikale Germanisierung und Italienisierung in diesem Gebiet ab 1941 eine Neuformierung des Widerstandes ein. Sie nötigte vor allem den Slowen:innen „Momente der Entscheidung“ auf, wie es Franc Sever-Franta in seinem Buch über den Weg in den Widerstand formulierte. Eine der wenigen Möglichkeiten sich zu wehren, war zu den Partisanen der Osvobodilna fronta, der slowenischen Befreiungsfront zu gehen. Das taten immer mehr junge Slowenen, die in die Wehrmacht eingezogen worden waren oder denen die Zwangsrekrutierung drohte. Sie traten die Flucht nach vorne an, aus dem Bedürfnis heraus, sich zu verteidigen und dem sozialen Tod der Repression zu entgehen.
Es handelt sich um eine Praxis der Befreiung und Rebellion, die eine lange Geschichte und viele Schauplätze hat. Eine Linie geht zurück auf die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte durch die französische Nationalversammlung vom 26. August 1789, die das Recht auf Widerstand gegen Unterdrückung im Artikel II artikulierte. Das Recht auf Widerstand ermutigte auch jene, die als „unmündige Bürger“ galten und von den Bürgerrechten ausgeschlossen blieben, gegen diese Entrechtung anzukämpfen. Olympe de Gouges formulierte kurz darauf die „Erklärung der Rechte der Frau und der Bürgerin“ und veränderte den Freiheitsbegriff: „Freiheit und Gerechtigkeit besteht darin, den anderen zurückzugeben, was ihnen zusteht.“ Diese „Leuchtfeuer der Selbstbefreiung“ (Elsa Dorlin) inspirierten auch die Rebellionen in den Kolonien und führten zur ersten Republik befreiter Sklaven auf Haiti. Gegen das radikalste Projekt des Ausschlusses aus der Menschheit, dem Vernichtungsantisemitismus der Nationalsozialisten, an dem Kärntner wie Odilo Globocnik und Ernst Lerch führend beteiligt waren, standen Jüdinnen und Juden im Warschauer Ghetto und in den Vernichtungslagern Sobibor und Treblinka auf. Auch wenn die meisten von ihnen starben, sie kämpften, wie es Yehuda Bauer formuliert hat, um die Aufrechterhaltung einer elementaren Moral des Überlebens in einer völlig unmoralisch gewordenen Welt.
Am Höhepunkt des antinazistischen Widerstands im Sommer 1944 kämpften in der Region Steiermark, Kärnten, Slowenien und Friaul-Julisch-Venetien viele tausende PartisanInnen um Freiheit und eine politische Neugründung. Sie bildeten im Untergrund Befreiungsausschüsse, Parlamente und Republiken, führten Rechte ein, die es bislang nicht gegeben hatte: das Frauenwahlrecht beispielsweise, sie schufen die Todesstrafe ab, sie formulierten Prinzipien der politischen, sozialen und kulturellen Teilhabe und für die Überwindung sozialer Ungleichheit in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Es ist klar, dass in diesem Prozess und vor allem im politischen Kampf auch Unrecht geschehen ist, über das man nicht hinwegsehen sollte, das man vielmehr genau analysieren sollte – aber der Kern der Neugründung politischer Gemeinwesen im Kampf um Befreiung ist beachtlich, auch wenn er in den postnationalsozialistischen und postfaschistischen Demokratien der Nachkriegsjahrzehnte zum Teil wieder verschüttet und verdrängt worden ist. Zu erinnern ist an die politischen Leistungen des europäischen Widerstandes, an die von Antifaschisten wie Henri Frenay, Altiero Spinelli und Eugen Kogon entwickelte Idee der Bildung einer europäischen Konföderation, an die Neuformulierung von Menschenrechten gegenüber völkisch oder national begründeten Kollektivinteressen, an die Schaffung der Europäischen Menschrechtskonvention und die Neuformulierung des allgemeinen Asylrechts, das heute stark unter Druck steht.
Widerständiges Handeln war noch etwas anderes als militärisch zu kämpfen und die Macht zu übernehmen. Es geschah auch auf individueller Ebene und in kleinen sozialen Beziehungen. In vielen Gemeinden gab es Deserteure der Wehrmacht. Sie verteidigten ihr Leben gegen den totalen Gehorsamsanspruch der Wehrmacht, der letztlich darin bestand, für den Führer zu sterben und andere zu töten. Unerlaubt überleben zu wollen, galt den Nazis und auch vielen Konservativen, die sie unterstützten, als „vaterlandslose Einstellung“, als individualistische Anmaßung, die „den sicheren Tod zur Folge“ haben musste. Hier am Domplatz befand sich in der damaligen Jesuitenkaserne das Wehrmachtsgefängnis von Klagenfurt. Hier wurden Deserteure festgehalten, bevor sie zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden. Nach 1945 wurde die individuelle Selbstermächtigung der Deserteure gegen den vorgesehenen Kriegertod, gegen den Aufopferungskult für die deutsche Volksgemeinschaft als „unpolitisch“ bewertet, vom demokratischen Staat und auch von manchen Widerstandsverbänden nicht anerkannt. Viele Deserteure blieben aus der Opferfürsorge ausgeschlossen. Dieses postnazistische Unrecht wurde erst nach einer langen Kampagne im Jahr 2009 vollständig beseitigt. Selbstverteidigung als Form widerständigen Handelns übten auch Zwangsarbeiter:innen und Kriegsgefangene aus, die zu Tausenden aus allen Teilen Europas in die Alpen verfrachtet worden waren. Sie flüchteten, verweigerten die Arbeit, stahlen Essen, gingen verbotene Liebesbeziehungen ein und wehrten sich gegen die Ordnungshüter. Widerständiges Handeln hatte viele Facetten und Formen, viele Gesichter und Geschlechter, war multiethnisch und multinational.
An die Diversität des Widerstandes zu erinnern ist auch geboten, um heutigen Maskeraden des Widerstandes zu begegnen, sei es auf den Demonstrationen gegen die Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid-Pandemie, die als Ausdruck einer internationalen Verschwörung imaginiert werden, sei es im künstlerischen Gewand auf der Documenta in Kassel, wenn Antikolonialismus als Antisemitismus als auftritt. Allzu oft verbirgt sich hinter der Parole des Widerstandes die Sehnsucht nach einer autoritären Beseitigung aller Widersprüche, die unsere Gesellschaft kennzeichnen, nach einer konformistischen Revolte, die die Wut auf Differenz in sich trägt. Emanzipatorisches Erinnern muss auch kritisch bleiben gegenüber jener Art vermeintlicher Versöhnung, die einzelne Feindbilder begräbt, nur um anderen mehr Platz zu geben.
Wer an den Widerstand erinnert, legt sich die Frage vor, wer den Widerstand bekämpft und unterdrückt hat. In Klagenfurt aufgestellte Truppen der Gebirgsjäger und der Waffen-SS waren maßgeblich an der Niederschlagung von Widerstand in Frankeich, Oberitalien, Slowenien und Kroatien beteiligt. In Klagenfurt trägt eine Kaserne des Bundesheeres immer noch den Namen eines ihrer Kommandanten, des Wehrmachtsgenerals Alois Windisch. Windisch hat dem Gauleiter von Kärnten Friedrich Rainer 1941 die eiserne Pflichterfüllung der „Söhne der Kärnter Berge“ versprochen, wohin auch immer sie der Befehl des Führers rufen mag, jedenfalls bis zum Endsieg. Windisch wurde von Hitler und vom kroatischen Diktator Ante Pavelic mit höchsten Orden für die Bekämpfung des norwegischen und kroatischen Widerstandes ausgezeichnet. Dass auch das Bundesheer der demokratischen Republik Österreich Windisch ehrt und den Wehrpflichtigen bis heute als Vorbild präsentiert, ist nichts anderes als eine Schande. Diese Ehrung verstößt fundamental gegen den antifaschistischen Geist unserer Verfassung und sie macht jedes Erinnern an den Widerstand unglaubwürdig. Es ist hoch an der Zeit, die Windisch-Kaserne umzubenennen und mit dem Namen eines Wehrmachtsdeserteurs, eines Widerstandskämpfers oder einer Widerstandskämpferin zu schmücken.
Den Sinn des Erinnerns an den historischen Widerstand hat Umberto Eco einmal so formuliert: „Freiheit und Befreiung sind eine niemals endende Aufgabe. Unser Motto muss heißen: ‚Nicht vergessen‘“. Und hinzufügen kann man dem die antifaschistische Losung des Kärntner Partisanen slowenischer Zunge Lipej Kolenik: „Für das Leben – gegen den Tod“.
Vielen Dank, hvala lepa.
Peter Pirker, Rede Domplatz „Svobodni! Befreit! Ein Fest für den Widerstand | Praznujmo upor“, Klagenfurt/Celovec, 1. Juli 2022